Zweite Abteilung, Requiem: Auszug aus “Domine Jesu”
„Vor langer, langer Zeit lebte einmal in einer kleinen Stadt eine Familie. Es war um die Weihnachtszeit und der Schnee hatte in dicken weichen Flocken die Bäume und Dächer in Weiß eingepackt. Die Straßen waren verschneit. Die hohe Schneedecke dämpfte alle Geräusche, als ginge die Welt in Pantoffeln daher. In einer einfachen Hütte an einem Berghang gelegen hatte es sich ein Bauer mit seiner Familie gemütlich gemacht. Draußen krächzte nur ein einsamer Rabe und der Ofen glühte im Wohnraum, dass die Holzbalken knackten. Die Frau des Bauern aber hatte die Gabe des Zweiten Gesichtes.“
„Du Tom, was ist das, ein Zweites Gesicht?“
„Das Zweite Gesicht ist die Fähigkeit, Dinge zu sehen, die anderen Menschen verborgen bleiben. So konnte die Bauersfrau in die Zukunft blicken, konnte Geister sehen und mit ihnen sprechen. Auch konnte sie an zwei Orten gleichzeitig sein. Das eine Gesicht war dann ihr wirkliches und das andere ein Schattenbild. Ihr Aussehen war das eines lieben Mütterchens, zu dem man sich gerne auf die Ofenbank setzt. Nur ihre Haare schimmerten in einem leichten Rot. Auch konnte die Bauersfrau Menschen mit vielerlei Mitteln, Salben, Verbänden und Pillen helfen. Nun war es aber zu dieser Zeit so, dass die Menschen sich zwar gerne von Geistersehern helfen lassen wollten, dass sie auch gerne von ihnen ihre Zukunft erfuhren, dass ihnen aber mächtige Leute im Land das verboten hatten.
Erst gestern war eine Mutter mit einem kleinen kranken Kind zu der Bauersfrau gekommen. Das Kind litt an einer anscheinend unheilbaren Krankheit, es war bleich, schwach und hustete. Die Mutter schaute traurig drein, als sie mit ihrem kleinen Menschenbündel eintrat. Sie wähnte, ihr Kind war zum Tode verurteilt. Bei allen Ärzten und Quacksalbern in der Gegend war sie schon gewesen. Nun war das die letzte Möglichkeit und letzte Hoffnung. Die Bauersfrau schaute in die trüben flackernden Augen des Kindes, nahm die fiebrige matte Hand und streichelte sie. Dann ging sie in einen hinteren Raum und rührte eine Paste an. „Streiche ihr das jeden Abend auf die Stirn,“ sagte sie und gab ihnen noch ein paar Pillen mit. Als sie aber dem Kind einen zusätzlichen Saft einflößte, aus Sauerkraut, wie sie bemerkte, erwachte es ein wenig und probierte ein Lächeln, so dass die Mutter frohlockte und guten Mutes nach Hause stapfte.
„Es ist das Essen,“ murmelte jetzt die Bauersfrau, „allewege das Essen, was die Leute krank macht. Da die Leute arm sind, es im Winter keine frischen Gemüse und keine Kräuter gibt, essen sie nur Altes und Fauliges.“ Sie seufzte, als es laut und drohend an der Tür klopfte. Der Vater öffnete angstvoll und draußen standen eine Handvoll düsterer Männer mit Hellebarden in den Händen.“
„Tom, was sind Hellebarden?“
„Hellebarden sind fürchterliche Waffen, die sich die einfachen Leute im Mittelalter selbst angefertigt haben. An einem langen Stock sind vorne spitze Eisenzacken und Beile befestigt. Mit ihnen haben sich die Menschen gegenseitig enthauptet oder aufgeschlitzt.“
„Tom, meinst du, das ist die richtige Gutenachtgeschichte für Paul?“ Ellen saß auf dem Sofa und betrachtete den schönen Weihnachtbaum in der Stube. Die Christbaumkugeln glänzten und der kleine Holzschmuck bewegte sich sacht in der Kerzenwärme.
„Es ist eine Geschichte von den Menschen, Ellen, und die haben sich seit Jahrtausenden nicht geändert. Paul ist jetzt neun und groß genug, das zu verstehen.“
„Ja, erzähl weiter!“ Paul saß auf dem Schoß von Hesse und hing gespannt an seinem Mund. Hesse mochte Paul sehr und erzählte ihm oft Märchen vor dem Schlafengehen und diesmal sollte es ein besonderes werden.
„Es gab einmal einen alten Schriftsteller in Russland, der hat mir diese Geschichte erzählt. Er hieß Fjodor und hat die Menschen verstanden. Fjodor hatte den Seherblick für die Unordnung der Welt und die Liebe für die erniedrigten und beleidigten Menschen. Ihn selbst sperrte man vier Jahre in ein Arbeitslager in Sibirien, die härteste Strafe, die es in Russland gab und noch immer gibt. Er hat über dieses von ihm erlebte Totenhaus - so nannte er das Gefangenenlager - ein Buch geschrieben. Ein anderes Buch, was er geschrieben hat, heißt „Die Brüder Karamasow“ und aus diesem Buch habe ich die Geschichte. Ich habe sie nur ein bisschen für dich verändert,“ und Hesse strich Paul über den Kopf und erzählte weiter.
„Die Männer nun drängten ungestüm und gewaltsam in die Hütte. Es waren Ratsdiener und Soldaten aus der nahen Stadt. „Was wollt ihr?“ Der Vater fragte mit zitternder Stimme und schaute ängstlich zu seiner Frau. Die saß ruhig mit den Kindern in der Ecke. „Wir holen dein Weib!“ und die Männer griffen brutal nach der Bauersfrau. „Was hat sie getan?“ Der Bauer stellte sich schützend vor seine Frau. „Sie ist der Hexerei angeklagt!“ sprachen die Männer herrisch, und ohne dass es der Bauer verhindern konnte, rissen sie die vermeintliche Hexe von ihm weg, fesselten sie und führten sie hinaus in die finstere und bitterkalte Nacht. Das einzige, was der Bauer noch im Vorbeigehen von seiner Frau hörte, war: „Es ist gut so!“ und ein flüchtiger Kuss berührte seine Wangen. Die Kinder weinten noch lange und dem Bauern riss es in Weh an seinem Herzen. „Wir können jetzt nichts machen,“ stammelte er zur Untätigkeit verdammt: „Morgen werden wir weitersehen.“
Als die Männer mit der Gefangenen durch den tiefen Schnee auf die Stadt zustapften, geschah es aber, dass sich ein riesiger Sturm erhob. Er heulte durch die Täler und die Baumriesen wurden geschüttelt, als ob eine Faust sie ergriffen hätte. Der Eisschnee peitschte den Männern ins Gesicht und es herrschte tiefste Finsternis. Die Männer hatten sich verirrt, blieben stehen und sprachen zu der Frau: „Was sollen wir machen, du Hexe, du müsstest es wissen.“ Und sie hatten Angst, als der Himmel von leuchtenden Blitzen erhellt wurde. Die Frau sagte aber nur: „Dorthin!“ und zeigte in eine Richtung. Und als die Gruppe sich mühsam durch den hüfthohen Schnee in Bewegung setzte, gelangten sie zu einer kleinen Kapelle, in der sie Zuflucht fanden. Draußen brüllte wütend der Sturm und die Kerzen flackerten und beschienen den Christus am Kreuz. Die Schneemassen türmten sich aber in den folgenden Stunden so hoch vor der Kapelle auf, dass sie am nächsten Morgen die kleine Tür nicht öffnen konnten und das Tageslicht nur dämmerig durch die Schneedecke fiel. Es war unheimlich still. Als stände der Tod draußen vor der Kapelle. Die Männer kauerten am Boden, froren und hatten großen Hunger. Nur die Bauersfrau saß aufrecht in der schmalen Kirchenbank und hatte die Augen geschlossen. „Heh, du Hexe, wenn du alles kannst, besorg uns was zu essen!“ und der Anführer rempelte rüde die Frau an. Wieder sagte sie nur: „Dort!“ und zeigte in eine Richtung. „Was dort!“ polterte der Anführer. Indessen ein anderer vermutete: „Vielleicht sollen wir uns durch den Schnee graben.“ Und tatsächlich - als sie nur ein Stück weit gekommen waren, stießen sie auf ein mageres verängstigtes Zicklein. Das musste sich bei dem Sturm auch verirrte haben. „Wir schlachten es!“ Einer der Männer erhob das Messer. „Nein!“ bestimmte der Anführer ruhig, „wir trinken nur die Milch, wissen wir denn wie lange wir hier gefangen sind?“ Die Männer aber wurden unruhig: „Und die Ziege, du Hexe, die Ziege? Die verhungert uns!“ und wieder wurden die Männer mürrisch und bekamen Angst. Aber auf ein weiteres Zeichen der Frau hingruben sie aus dem Schnee Wurzeln, die das Tier gierig fraß. (...)
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